Interview von Serge Legil mit der Zeitschrift forum

"Eine Haftanstalt sollte sich idealerweise spezifisch orientieren"

Interview: forum (Dr. Henning Marmulla)

forum: Herr Legil, bevor Sie 2018 Direktor der Gefängnisverwaltung wurden, haben Sie beim CELPL und beim Ombudsman sozusagen von der anderen Seite auf das Thema Gefängnis geschaut. Wie unterscheidet sich Ihr Blick auf die luxemburgischen Haftanstalten vor und nach 2018?

Serge Legil: Man verliert seine Unschuld! Wenn man das Gefängnis von außen betrachtet, hat man immer nur seinen Tätigkeitsbereich im Blick, der zwangsweise wesentlich eingeengter ist, als wenn man als Direktor das Ganze in den Blick nimmt. Der Ombudsman kann von einem Gefangenen oder seiner Familie mit einer Reklamation beauftragt werden. Zumeist sind das ganz praktische Angelegenheiten, die Ernährung, Medizin usw. betreffen.

Der contrôleur externe hat eine ganz andere Aufgabe. Er kümmert sich nicht um Einzelfälle. Seine Rolle ist es, durch verstärkte Kontrolle abschreckend zu wirken und somit zu verhindern, dass Menschenrechtsverletzungen überhaupt stattfinden können. Das bezieht sich sowohl auf die Kontrolle der Praxis, als auch auf die Frage, ob internationale Regelungen eingehalten werden (zum Beispiel die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen, die sogenannten Nelson-Mandela-Regeln). Das ist sehr wichtig. Ein Blick von außen ist unabdingbar.

Für uns in der Gefängnisverwaltung, wenn man also in der Sache drin ist, stellt sich alles viel komplexer dar. Man merkt ganz schnell, dass die Änderungen, die von außen einfach durchzusetzen scheinen, häufig nicht so ohne Weiteres durchführbar sind. Wenn man an einer Speiche dreht, dreht sich das ganze Rad mit.

forum: Können Sie dafür ein Beispiel nennen? Etwas, das in Ihren Augen nicht so einfach durchzuführen ist, aber eigentlich reformiert werden müsste? Man denke beispielsweise an den Bericht des Ombudsman von 2017, den Sie ja mitverfasst haben, und in dem die schlechte Situation der Frauen in den Gefängnissen kritisiert wird.

Serge Legil: Das ist ein gutes Beispiel, denn das würde ich auch heute noch genauso kritisieren. Die Situation der Frauen im Gefängnis ist schlecht. Wir sind uns des Problems durchaus bewusst. Aber so ganz einfach zu ändern ist es eben nicht. Luxemburg ist ein kleines Land. Wir haben auf rund 520 Gefangene in Schrassig ungefähr 20 Frauen. Die Frauen sind in einem einzigen Block mit einer maximalen Kapazität von 40 untergebracht. Aber aufgrund der internationalen Regelungen muss man Untersuchungshäftlinge und Strafgefangene trennen, das heißt die einen sind im Erdgeschoss, die anderen im ersten Stockwerk. Dazu kommt nun Folgendes: Bei den Frauen ist die kriminologische Verteilung ganz anders als bei den Männern. Bei den Männern haben Sie die normale Verteilung der Gefängnisstrafdauer: ganz viele kleine Strafen (also zwei bis drei Jahre), dann das Mittelfeld, und nach oben dünnt es stark aus. Lebenslängliche Strafen (über 15-20 Jahre) sind eher die Ausnahme. Bei den Frauen ist das nicht der Fall. Es gibt sehr viele Kurzstrafen, kaum welche im Mittelfeld, aber proportional gesehen sehr viele lange Strafen. Bei den verurteilten Frauen verbüßt ein sattes Drittel eine sehr lange oder lebenslängliche Strafe. Das heißt, diese Frauen müssen einen Großteil ihres Lebens auf einem einzigen Stockwerk verbringen. Und manchmal, nun kommt der springende Punkt, haben Sie dann den Fall, dass Frauen, die ein Verbrechen gemeinsam begangen und später eventuell gegeneinander ausgesagt haben, 20 Jahre lang auf ein und demselben Stockwerk sitzen. Das ist ein Riesenproblem, das wir erst lösen können, wenn Sanem betriebsbereit ist. Erst dann bekommen wir die notwendigen Kapazitäten. Eher geht es nicht. Das ist ein klassisches Beispiel: Ich wusste es, ich weiß es, ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen, jeder kennt das Problem, aber niemand kann es ändern.

forum: Aktuell haben Sie, wie die Gesamtgesellschaft, mit der Coronakrise zu kämpfen. Was bedeutet es für die Inhaftierten und für die Wärter, in dieser Zeit zu leben?

Serge Legil: Es ist etwas kompliziert. Im Hinblick auf die Menschenrechte der Gefangenen müssen wir darauf achten, dass ihre Bewegungsfreiheit soweit wie möglich bestehen bleibt. Dafür brauchen wir viele Wärter. Für den Sport, Hofgang usw. Corona verpflichtet uns dazu, Kreuzinfektionen zu vermeiden, das heißt, wir müssen die Wärter in Gruppen einteilen, die sich nicht begegnen.

Während der akuten ersten Phase hatten wir sehr strenge Restriktionen. Beim Sport gab es zuvor verschiedene Einheiten. Die Inhaftierten wurden nicht nach Gefangenen-Block, sondern nach Sportart gruppiert. Damit mussten wir aufhören, um Kontaminationen zu vermeiden. Jetzt geht jeder Block oder Teilblock für sich zum Sport. Anders geht das halt nicht. Damit muss man leben.

Wir haben am Anfang der Krise auch unsere Breitbandleistungskapazitäten ausgebaut, um parallel bis zu neun Skype-Sitzungen führen zu können. Wir haben neun Räume, die regelmäßig desinfiziert werden. Skype hat aber auch Grenzen. Um Skype zu nutzen, brauchen beide Gesprächspartner einen Computer. Und den hat in manchen Ländern eben nicht jeder. Deshalb haben wir auch die Möglich­keiten zu telefonieren raufgeschraubt. Die Inhaftierten durften mehr telefonieren, weil sie weniger Besuche hatten.

forum: Stichwort Besuche: In Frankreich gibt es sehr fortschrittliche Besuchsmodelle. Es gibt Haftanstalten, in denen es Appartements für Familien oder Paare gibt. Da wird dann beispielsweise ein Paar für ein Wochenende eingeschlossen und kann wirklich Zeit zu zweit verbringen.

Serge Legil: Die Frage musste ja kommen.

forum: Ja, sie kommt, weil ich das für ein überzeugendes Konzept halte. Ein Konzept, das unter dem Aspekt der Resozialisierung ungemein wichtig ist. Kommt das auch in Luxemburg?

Serge Legil: Also in Sanem ist das schon eingebaut. Es wird Zimmer mit Spielsachen für Paare mit Kindern geben. Und dann haben wir auch ein Besuchszimmer für Paare ohne Kinder. Das werden wir auch in Schrassig machen, sobald es infrastrukturell möglich ist. In Sanem steht es, in Schrassig wird es kommen.

forum: Sind auch Besuche über Nacht angedacht?

Serge Legil: Nein, das nicht. Aber stundenweise können sich Paare dann zurückziehen. Und sie werden auch nicht gestört. In Belgien gibt es das schon länger, aber bei uns in Luxemburg braucht es auch einen Mentalitätswandel, sowohl bei Teilen der Bevölkerung als auch bei Teilen des Personals. Das Konzept bringt zudem viele Probleme mit sich. Wie steht es mit den Paaren, die nicht verheiratet oder gepacst sind, aber trotzdem eine stabile Beziehung haben? Wie ist es mit Prostitution? Prostitution ist bei uns nicht verboten, aber Zuhälterei. Da gibt es mehrere offene Fragen. Aber generell ist das vorgesehen, gebaut, und ich finde das auch sehr richtig so.

forum: Ein wichtiger Aspekt der Gefängnisreform 2018 war die Schaffung der Gefängnisverwaltung, deren Direktor Sie sind. Ein anderer die Einrichtung des plan volontaire d’insertion (PVI). Eine Art Resozialisierungsplan, der direkt mit Haftantritt für die Zeit nach der Haft entwickelt wird. Wie ist so ein Plan eigentlich aufgebaut?

Serge Legil: Der PVI ist ein Sammelbegriff für die formalisierte Behandlung während der Haftzeit. Er bündelt eine ganze Reihe an Maßnahmen, die untereinander verschränkt sind und sich gegenseitig bedingen. Das geht in Richtung eines Stufenplans: Bildung, Sicherung finanzieller Überlebenschancen, psychologische Arbeit. Wir haben verschiedene Niveaus der Betreuung. Das geht los mit dem Service psycho-socio-éducatif (SPSE) und den conseillers en insertion, das sind entweder Sozialpädagogen oder Sozialarbeiter. Beide nehmen sofort bei Einlieferung Kontakt mit dem Gefangenen auf. Die conseillers en insertion stehen in ständigem Kontakt mit den Häftlingen, sie sorgen beispielsweise auch dafür, dass mit dem Gehalt Schulden beglichen werden, ganz oft geht es um Geldbußen oder Gerichtskosten. Ein paar Tage später kommt ein Psychologe für eine Grobeinschätzung ins Spiel. Wenn nötig, kommt dann auch noch die Psychiatrie hinzu. Wir bieten psychologische Betreuung an, aber auch Betreuung von Sexualstraftätern, grenzwertig Minderbegabten oder Abhängigen, bisweilen, aber selten, auch Behandlung im Bereich der forensischen Psychiatrie bei Persönlichkeitsstörungen. Entscheidend ist es, den Inhaftierten Perspektiven zu bieten, ihnen auch eine Beschäftigung anzubieten, damit sie, wenn sie rauskommen, größtmögliche Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Deshalb orientieren wir unser Arbeitsangebot auch mehr und mehr an der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und entfernen uns von der alten Logik, in der die Arbeit auch als Beschäftigungstherapie diente.

forum: Stichwort Arbeit: Es gibt noch immer viel zu wenig Stellen im Gefängnis für alle Inhaftierten, und die Bandbreite ist gering.

Serge Legil: Es wird, wie bereits gesagt, immer stärker in die Richtung gehen, Aktivitäten anzubieten, die später auf dem Arbeitsmarkt verwendbar sind und die wir dann auch noch zertifizieren werden. Wir merken, dass ganz viele unserer Leute sich nachher in Restaurants wiederfinden, im Service oder in der Küche. Wenn wir denen die Hygieneregeln (Haccp) beibringen und dies zertifizieren lassen können, dann haben wir etwas Sinnvolles erreicht. Viele Ex-Häftlinge finden sich im Wein- und Ackerbau wieder, bei der Spargel­ernte. Wenn wir darauf besser vorbereiten können, wäre das toll. In Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Bildung, Kinder und Jugend arbeiten wir an dementsprechenden Ausbildungsmodulen.

forum: Was ist mit Sprach- oder Computerangeboten?

Serge Legil: Das ja sowieso. Rechnen, Schreiben ebenso.

forum: Wie würden Sie denn die bisherigen Erfahrungen mit dem PVI beschreiben?

Serge Legil: Ich bin froh, dass wir ihn haben. Aber man muss auch dazu sagen, dass ganz viele unserer Gefangenen keinen PVI benötigen, weil sie keine Verankerung hier in Luxemburg haben. Die bleiben auch nicht hier. Viele sind aus Afrika, die hier zumeist wegen Drogenhandels kurzzeitig einsitzen und nach ihrer Entlassung abgeschoben werden oder deren Spur sich nach ihrer Entlassung irgendwo in Europa verliert. Manche kommen auch mehrfach zu uns. Was wir ihnen bieten können, sind die grundlegenden Bildungsangebote (Rechnen, Schreiben, Lesen) und medizinische sowie psychologische Betreuung.

forum: Kommen wir aber nochmal auf die zurück, die in Luxemburg bleiben, die in der Haft sind, die Angebote in der Haft nutzen, etwas lernen, etwas arbeiten, und dann kommt der Moment der Entlassung. Da trifft ein Freigelassener ja auf ganz andere Probleme, wenn er nach langer Zeit plötzlich wieder in Freiheit ist. Probleme, die Wohnen und Finanzielles betreffen, aber auch den Aspekt, dass man sich an Freiheit nach langer Zeit wieder gewöhnen muss. Die Caritas hat dazu vor einigen Jahren das Konzept der transition houses ausgearbeitet und 2018 auch breit diskutiert und präsentiert. Ein Angebot, das Ex-Häftlinge beim Übergang von der Haft in die Freiheit unterstützt. Bisher haben wir diese transition houses in Luxemburg nicht. Warum geht das nicht voran?

Serge Legil: Nun, das war unsere Absicht. Wir wollten die ja. Aber das ist nicht unser Fachbereich und liegt auch nicht in unseren Zuständigkeiten. Wir haben auch nachgefragt, was denn nun passiert. Uns wurde gesagt, es gäbe genügend Institutionen, die solche Leute aufnehmen können, aber dass ein Mangel an Koordination bestehe. Es bestehen Angebote von der Caritas, dem Roten Kreuz, dem Comité national de défense sociale (CNDS) etc. Es gibt auch ganz spezifische Programme: für Alkoholiker oder Menschen mit Psychosen. Die Übergangsphase wird in Luxemburg vom Service central d’assistance sociale (SCAS) begleitet, der sich vor der Freilassung um diese Aspekte kümmert. Zudem gibt es die Commission consultative à l’exécution des peines und auch die Commission de longues peines (CLP), die noch gesetzlich verankert werden muss. Erstere hat den Zweck, die Strafgefangenen im Hinblick auf eine eventuelle Entlassung zu untersuchen. Hat der Betroffene eine Arbeit? Hat er Chancen, eine zu finden? Wie ist das Verhältnis zur Familie? Hat er noch Schulden? Die CLP hat hingegen eine spezifischere Funktion und kümmert sich um die „Stammkundschaft“ – und dann aber tiefgehend.. Das heißt, sie nehmen sich pro Sitzung ein Dossier vor und nehmen das auseinander, auch im Kontext des PVI. Wo kann man noch dran arbeiten? Was wurde bis jetzt erreicht? Was nicht? Alles in allem wird also viel getan für die Entlassenen, aber natürlich sind all diese Angebote auch ausbaufähig.

Unsere Services sociaux geben uns im Augenblick keine Rückmeldungen über größere Probleme in dieser Hinsicht. Ich habe persönlich lange nicht mehr gehört, dass jemand rückfällig geworden wäre, weil er nach der Haft Probleme mit der Wohnung gehabt hätte. Dazu kommt, wie bereits gesagt: Wir haben sehr viele Ausländer, und die sind nachher zu einem großen Teil weg. In Luxemburg wohnhaft sind nur wenige. Das heißt, wir sprechen hier von einer ganz kleinen Zahl von Leuten. Wenn wir das zahlenmäßig aufarbeiten würden, kämen wir vielleicht auf 30 pro Jahr, die große Probleme haben, eine Wohnung zu finden, eher weniger. Das mag auch erklären, weshalb der Bedarf der transition houses als nicht so hoch eingeschätzt wird.

forum: Ein anderes Problem: Die Situation der Jugendlichen. Wie gewährleisten Sie den Jugendschutz, wenn ein Minderjähriger im herkömmlichen Strafvollzug sitzt? Wir haben zwar die Unité de sécurité des mineurs (Unisec) mit 12 Plätzen, aber es kann vorkommen, dass Minderjährige auch im Regelstrafvollzug untergebracht werden.

Serge Legil: Ja, es gibt die Unisec. Was die Unterbringung von Minderjährigen im Regelstrafvollzug angeht: Da sind wir dagegen. Aber sowas von dagegen. Wir wollen keine Minderjährigen mehr im Gefängnis haben. Das scheint mittlerweile überall durchgedrungen zu sein. Das muss auch gesagt werden, denn: Gesetzlich ist das noch immer möglich. Es gibt den Sonderfall nach Artikel 32 im aktuellen Jugendschutzgesetz. Dieser sieht vor, dass wenn ein Jugendlicher, der mindestens 16 Jahre alt ist, die erforderliche geistige Reife hat und ein Verbrechen begangen hat, das einen hohen Schweregrad aufweist, der Jugendrichter den Untersuchungsrichter mit einem Antrag befassen kann, um den Jugendlichen nach dem allgemeinen Strafrecht für Erwachsene zu behandeln. Aktuell haben wir einen Minderjährigen in Schrassig, der bald die Volljährigkeit erreicht. Und danach wird das Thema Jugendliche im Gefängnis hoffentlich eine Angelegenheit für die Historiker sein.

forum: Sie nannten das Jugendschutzgesetz. Sind Sie optimistisch, was die Reform des Jugendschutzgesetzes angeht?

Serge Legil: Ja, aber das ist wesentlich komplexer als man annehmen könnte. Niemand ist zufrieden damit, Minderjährige ins Gefängnis zu den Erwachsenen zu stecken. Niemand! Auch nicht die Gerichtsbarkeit. Also: Wir müssen den Jugendschutz reformieren. Ich glaube, wir gehen langsam wieder Richtung 70er Jahre, als man Kinder und Jugendliche, die straffällig geworden sind, nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer angesehen hat. Und das stimmt oft. Ich glaube, das so zu sehen, ist der richtige Weg. Es finden sich immer mehr Anhänger für diese Notwendigkeit: Wir brauchen neben dem Jugendschutzrecht für die Jugendlichen, die Schutz brauchen – vor sich selbst und vor anderen –, auch ein Jugendstrafrecht für die Jugendlichen, die übertrieben auf den Putz gehauen haben. Wir brauchen beides. Es gibt Jugendliche, die gehören geschützt, und es gibt solche, die gehören bestraft. Psychologisch betreut werden müssen beide, aber wir müssen schützen und strafen. Täter und Opfer dürfen nicht mehr zusammen betreut werden. Das wird wohl dazu führen, dass man irgendwann vermutlich eine zusätzliche Anstalt braucht, wo dann das Jugendstrafrecht ausgeübt werden wird. Wir brauchen ein Jugendstrafrecht.

forum: Wann wird das kommen?

Serge Legil: Das wird prioritär bearbeitet. Wann das kommt, ist schwer zu sagen, ich würde schätzen, in einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren.

forum: Nun zu einem anderen Thema. Sie haben in einem Journal-Interview vor einem Jahr gesagt, dass es 1.000 Bewegungen, also Eingang und Ausgang, von Drogen pro Tag in Schrassig gäbe. Wie bitte ist das möglich?

Serge Legil: 1.300 sind es. Das ist der Wahnsinn, und keiner kann das glauben. Die Menschen denken immer, ein Gefängnis sei wie eine Burg mit Zugbrücke im Mittelalter, und nichts käme unkontrolliert herein. Brücke rauf, fertig, kommt nichts rein. So ist das nicht. Allein mit dem Personal gibt es Hunderte von Bewegungen am Tag. Die Anwälte, die Atelierchefs, die Menschenrechtler und auch die Besucher sind sehr zahlreich. Wir haben Verkehr von morgens um 8 bis manchmal abends um 10 Uhr. Und das sieben Tage die Woche. Dann haben Sie die verschiedenen Handwerker. Lebensmittel werden angeliefert. Es ist zu einfach, Drogen ins Gefängnis zu schmuggeln, da eine totale Kontrolle angesichts der vielen Bewegungen und Warenlieferungen pro Tag absolut unmöglich ist. Die schlichte Größe der Haftanstalt ist ebenfalls enorm, und das absolute Volumen der geschmuggelten Drogen verhältnismäßig minimal – und das macht die Komplexität der Sache aus. Es ist nicht leicht, ein Objekt von der Größe einer Streichholzschachtel in so einem großen Gebäude zu finden. Ein solches Objekt dort zu verstecken, ist ein Leichtes.

forum: Über welche Drogen sprechen wir denn eigentlich?

Serge Legil: Weiche Drogen hauptsächlich.

forum: Alkohol auch? Ist das ein interessantes Schmuggel-Produkt?

Serge Legil: Alkohol wird vermutlich selten reingeschmuggelt, dafür aber umso mehr vor Ort produziert. Eine ziemlich ekelhafte Mischung ist das, ich habe sie selber schon mal probiert. Das Gebräu wird aus Säften, die gerade verfügbar sind, Zucker und früher Hefe, mittlerweile Sauerteig gemacht.

forum: Wo machen die das denn?

Serge Legil: Wir kennen nicht alle Verstecke, aber wir finden regelmäßig welche.

forum: Dann zu den anderen Drogen. Was sind Ihre Strategien im Kampf gegen Drogen?

Serge Legil: Die Kontrolle ist extrem scharf. Drogen können über den Besuch, den Paketdienst oder andere Wege hineingelangen. Vor allem Marihuana und Haschisch. Harte Drogen sind eher selten. Wir finden fast nie Heroin, Kokain auch nur sehr selten. Wie kommt es rein? Wissen wir nicht. Wir haben Detektions- und Röntgenapparate. Wir machen auch Zufallskontrollen bei den Besuchern. Alle Pakete werden systematisch kontrolliert. Dann gibt es regelmäßige Urinproben bei den Häftlingen. So finden wir schon viel.

forum: Haben Sie denn mittlerweile Hunde?

Serge Legil: Wir haben im Moment noch keine eigenen Hunde. Sie rennen mit der Frage aber offene Türen bei mir ein. Wir haben zwei Hunde auf dem Budget für das nächste Jahr, und die werden wir in Zusammenarbeit mit unseren Kollegen bei der Zollverwaltung aussuchen und ausbilden. Bis die einsatzbereit sind, ist das eine Sache von eineinhalb Jahren. Aktuell kommen regelmäßig Hundeführer der Polizei und des Zolls in den Gefängnissen vorbei. Aber sie können nicht andauernd für uns einspringen. Deshalb haben wir gesagt: Wir brauchen unbedingt eigene Hunde, über die wir frei verfügen können.

forum: Wie werden eigentlich die Wärter ausgebildet?

Serge Legil: Seit der Reform müssen die Wärter fünf Jahre Sekundarschule haben. Früher mussten sie auch über eine militärische Ausbildung verfügen, das ist jetzt vorbei. Immer mehr Wärter haben Abitur oder mit dem Abitur gleichgestellte Abschlüsse wie Meisterbriefe. Die Grundausbildung dauert zwei Jahre. Wir rekrutieren viele Wärter aus bestimmten Berufsfeldern, so ist etwa das Sicherheitspersonal vom Flughafen ein großes Reservoir für uns. Die sind zum Beispiel bereits mit Röntgenapparaten und Personenkontrollen vertraut. Das ist für uns ganz wichtig.

forum: Reicht dieses Reservoir denn aus? Wo kommen die anderen benötigten neuen Wärter her? Stichwort Sanem.

Serge Legil: Das reicht natürlich nicht. Aber es gibt auch noch genügend andere.

forum: Vor einem Jahr hat der Präsident der Gewerkschaft des Gefängnispersonals davor gewarnt, dass es zu Problemen bei der Rekrutierung kommt. Werden Sie bis 2023 die Wärter haben, die Sie brauchen?

Serge Legil: Das kann ich Ihnen so nicht sagen. Wenn alles so weitergeht wie bis jetzt, dann ja. Dann ohne Probleme. Aber ich spreche hier nur über die Wärter. Es gibt noch zahlreiche andere Stellen zu besetzen. Da wird es schwieriger.

forum: In welchen Bereichen ist die Rekrutierung am schwierigsten?

Serge Legil: Mittleres Management, Personalverwaltung, das ist schwieriger. Bei den Wärtern muss man sagen: Die sind sehr gut bezahlt. Und das ist ein sehr interessanter Job. Früher ging es nur um das Auf- und Zuschließen und von A nach B bringen. Jetzt haben die Wärter die Rolle, die Insassen ans tägliche Leben heranzuführen. Der Wärter soll erzieherisch begleiten. Er soll auch merken, wenn etwas mit den Gefangenen nicht stimmt und das an die Spezialisten weitergeben, sodass die geeignete Hilfe so schnell wie möglich angeboten werden kann. Wir haben Wärter, die seit 20 Jahren fast täglich mit verschiedenen Gefangenen zusammenleben, die kennen sich.

Was mich immer furchtbar ärgert, ist, wenn die Arbeit der Wärter belächelt wird. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe, die viel Fingerspitzengefühl verlangt und nicht ungefährlich ist. Es ist schwierig, 20 Jahre fast tagtäglich mit jemanden zusammen zu leben, immer empathisch zu sein und zuzuhören, aber niemals zu viel Nähe zuzulassen.

forum: Welche Sprachkompetenzen müssen die Wärter mitbringen?

Serge Legil: Viele. Wir sind immer froh, wenn Wärter mehr Sprachen mitbringen als gefordert. Die Minimalforderung ist Luxemburgisch, Deutsch und Französisch. Wir haben glücklicherweise aber auch viele Wärter aus dem portugiesischen Sprachbereich und immer mehr Wärter vom Balkan. Wir haben auch einen thailändischen Gefängniswärter. Wir können einen Großteil der sprachlichen Probleme intern lösen.

forum: Aber die Wärter müssen die luxemburgische Staatsbürgerschaft haben?

Serge Legil: Oh ja.

forum: Wird sich das ändern?

Serge Legil: Ich hoffe nicht. Es gibt natürlich immer den Plan B. Falls wir nicht genug luxemburgische Wärter finden, muss darüber nachgedacht werden, das für EU-Ausländer zu öffnen, vorausgesetzt, sie haben die entsprechenden Sprachkenntnisse. Wir sind aber nicht unbedingt dafür. Die Gewerkschaften weigern sich. Es ist aber auch, und das will ich betonen, aus Kollegialitätsgründen so. Die Direktoren der Gefängnisse in Arlon und Wittlich haben wirklich Angst, dass wir ihnen aufgrund unserer höheren Löhne die Wärter abziehen.

forum: Stichwort Verdienst: Nicht so viel verdienen allerdings die Häftlinge für das, was sie leisten?

Serge Legil: Da muss man aufpassen. Die Häftlinge haben kein Arbeitsverhältnis. Sie bekommen ein Entgelt, und sie arbeiten auch keine 40 Stunden. Sie haben kein Anrecht auf Pensionsleistungen und sind auch nicht sozialversichert.

forum: Ja, aber wenn man an die Resozialisierung denkt, wäre es dann denn nicht an der Zeit, dass sich das ändert?

Serge Legil: Das wird kommen. Es gibt Bestrebungen, jeden Häftling auch zu versichern. Aber da haben wir noch verschiedene Probleme, weil das technisch nicht ganz einfach ist für die Krankenkasse. Wenn jemand zu wenig verdient und die Kasse dementsprechend wenig Beitrag erhält, dann geht die Rechnung – bei schweren und teuren Erkrankungen – für die Kasse nicht auf. Wir zahlen Millionen von Euro jährlich für kranke Inhaftierte. Und dennoch glaube ich, dass es Sinn ergäbe, das einzuführen, und ich glaube auch, dass es kommen muss, weil es einfach unter dem Aspekt der Resozialisierung wichtig ist. Im Moment, das muss man einfach so sagen, sind die Leute im Gefängnis nicht Teil der Gesellschaft. Mit einer sozialversicherten Tätigkeit wären sie es und würden am normalen Sozialsystem teilhaben können. Das wäre ein wichtiger Schritt.

forum: Es werden immer wieder Alternativen zum klassischen Strafvollzug in die Debatte eingebracht. Warum wird nicht verstärkt mit elektronischen Fußfesseln gearbeitet? Tatsächlich werden sie immer weniger benutzt.

Serge Legil: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Da müssen Sie schon die Richter fragen.

forum: Was wäre denn Ihre These?

Serge Legil: Fluchtgefahr, ganz einfach. Es gibt zwei Arten Fußfesseln, und in Luxemburg wird nur eine davon verwendet. Das ist ein Alarm, der sich einschaltet, wenn man sich außerhalb eines bestimmten Perimeters befindet. Die zweite Art mit GPS verwenden wir nicht, weil menschenrechtlich noch nicht abgeklärt ist, ob das ratsam ist.

Im Allgemeinen muss man aber sagen, dass Fußfesseln nicht gut funktionieren. Das klappt blendend bei ganz kleinen Strafen, aber ab sechs Monaten wird es schwierig für die Betroffenen. Zuhause hat man quasi Normalität, muss sich aber selbst einsperren. Viele Anwender haben es mit einer Diät verglichen. Viele unserer Leute haben es versucht, aber es hat nicht geklappt.

forum: Menschenrechtlich aber durchaus eine interessante Frage: Haft auf der einen, Fußfessel auf der anderen Seite. Wo werden die Menschenrechte denn stärker eingeschränkt?

Serge Legil: Da kann ich Sie nur an Frau Christiane Bisenius, Delegierte der Generalstaatsanwältin für den Strafvollzug, verweisen. Wir haben zurzeit zehn Verurteilte mit elektronischer Fußfessel.

forum: Eine weitere Alternative: Es gibt auch die restaurative Justiz, in deren Zentrum die Wiedergutmachung steht und die Haft ersetzt wird durch den Versuch, einen begangenen Schaden wieder gut zu machen.

Serge Legil: Aber wir haben das ja bereits. Die médiation pénale, die bei der Staatsanwaltschaft und der Anwaltskammer stattfindet. Sie haben auch die médiateurs privés für die Mediation im zivilrechtlichen Bereich. Und dann den Ombudsman.

forum: Können Sie sich denn vorstellen, dass das noch weiter ausgebaut wird?

Serge Legil: Auf jeden Fall, aber ich denke das ist eine Sache der Zeit. Bei kleinen Straftaten und Verkehrsdelikten ergibt das Sinn, oder auch bei Sachbeschädigungen. Wir sind für alles, was den Maßnahmenkatalog bereichern kann. Wir sind keine Verfechter der Gefängnisstrafe für alles, bestimmt nicht. Man kann ohne Weiteres sagen, dass für viele Arten von Verbrechen jemand einzusperren eine bescheuerte Strafe ist, aber leider kennen wir auch noch keinen besseren Weg.

forum: Was ist denn in Ihren Augen der Sinn von Strafe?

Serge Legil: Das ist die klassische Frage! Die Frage der Fragen: Es gibt drei Achsen, die sich im Strafvollzug wiederfinden müssen. Die erste ist der Schutz der Gesellschaft durch die Absonderung potenziell gefährlicher Leute. Die zweite ist die Strafe an sich. Der alte Sühnegedanke. Naja, man mag davon halten, was man will. Der dritte Gedanke, und das ist der Kern unserer Bemühungen, und der moderne Strafvollzug fußt darauf, ist, dass im Prinzip alle Straftäter Hilfe erhalten können und mindestens weniger gefährlich rauskommen als sie reingekommen sind. Man kann versuchen, Menschen mit Informationen, mit Ausbildungen, mit einem Umfeld zu versorgen, sodass ein Selbsterkenntnisprozess stattfinden kann.

forum: In den 70er Jahren gab es, vor allem in Frankreich, prominent angeführt von Michel Foucault, eine Anti-Gefängnis-Bewegung, die das Gegenteil behauptet hat: Gefängnis mache Menschen kaputt.

Serge Legil: Das kann ich so nicht unterschreiben. Aber: Die Gefängnisse müssen auch besser sein. Die französischen Gefängnisse der 70er Jahre waren schlechte Gefängnisse. Natürlich kam man da schlechter raus, als man reingekommen ist. Das glaube ich gerne.

forum: Könnten Sie sich denn etwas vorstellen, was es noch nicht gibt, was wir aber bräuchten, um die Resozialisierungsbemühungen noch effektiver zu machen? Wenn Sie einen Wunschzettel hätten, auf den Sie schreiben könnten, was noch besser werden müsste im Strafvollzug, was stünde da drauf? Kurz gefragt: Wie sähe das ideale Gefängnis aus?

Serge Legil: Generell bin ich tatsächlich ein Freund der restaurativen Justiz. Aber: Dies gilt für kleinere Vergehen. Verkehr, kleine Schlägereien, dies vor allem bei Ersttätern. Ansonsten gilt: Eine Haftanstalt sollte sich idealerweise spezifisch orientieren. Für Gewaltstraftäter, für Sexualstraftäter, für ältere Menschen, für Drogen usw. Das geht halt am besten, wenn man Fachpersonen für bestimmte Bereiche hat und nicht Generalisten.

Unser großer Wunsch ist, dass, wenn Sanem steht, Schrassig vor allem frauen­spezifisch umstrukturiert wird. Das ist die erste Priorität. Wir bräuchten auch einen Block für Drogenabhängige, in dem nachweislich keine Drogen ankommen und drakonische Kontrollen stattfinden. Für die Häftlinge, die wirklich davon loskommen wollen. Was wir auch immer dringender brauchen, ist eine Geriatrie. Das ist ganz wichtig. Haftstrafen werden auf der einen Seite immer länger, auf der anderen Seite wird das Alter beim Strafantritt auch immer höher. Wir haben jetzt die ersten Häftlinge im Rollstuhl. Da muss was geschehen.

Wir brauchen ebenfalls, außerhalb der Mauern natürlich, eine forensische Psychiatrie, die dazu geeignet ist, hochgefährliche Patienten aufzunehmen. Dann bräuchten wir für diejenigen, die eine längere Strafe absitzen müssen, unbedingt echte Ausbildungsmöglichkeiten. Das geht halt mit Inhaftierten, die für einen dementsprechenden langen Zeitraum da sind, aber auch nicht lebenslänglich, denn dann nützt die Ausbildung ja nichts mehr. Außerdem bräuchten wir genügend inhaftierte Personen, die auf dem gleichen Niveau sind, sprachlich und intellektuell. Das ist ganz schwierig hier in Luxemburg.

Wenn Sie fragen nach dem idealen Gefängnis, wenn man überlegt, worauf wir besondere Aufmerksamkeit legen müssen: Das sind die Abhängigen, das sind Kranke, Alte und Frauen. Aber: Kinder, das wollen wir nicht mehr hören.

forum: Herr Legil, eine etwas private Frage zum Schluss: Ärzte lachen über Arztserien. Anwälte über Anwaltsserien. Man hört, wie unrealistisch diese seien. Lachen Sie, als Direktor der luxemburgischen Gefängnisverwaltung, auch über den Unterschied zwischen Gefängnisserien und -filmen und der Realität in Schrassig oder Givenich?

Serge Legil: Die schaue ich mir selten an. Ich vertrage sie so schlecht. Midnight Express und One Flew Over The Cuckoo’s Nest sind aber zwei Filme, die bemerkenswert sind, der eine für die Forensik und der andere für das Gefängiswesen. Aber die Serien sind oft peinlich.

 

"Eine Haftanstalt sollte sich idealerweise spezifisch orientieren". Ein Gespräch mit Serge Legil, dem Direktor der Administration pénitentiaire, in: forum 411, November 2020, S. 45-51.

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